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AutorenbildGiuliani Silvia

Die NATO, Russlands Zwilling

Historische Fakten und Kenntnisse sind nicht nur dazu da, unsere persönliche Intelligenz aufzupolieren. Sie sind auch nützlich, um Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und sich eine eigene Meinung zu bilden. Aber warum lese ich nirgendwo etwas über den NATO-Artikel 10?


Artikel 10 des NATO-Vertrags besagt, dass ein Beitritt nur auf Einladung der NATO erfolgen kann. Das stellt erst einmal alle diejenigen bloß, die behaupten, die Ukraine habe ganz freiwillig und aus eigenem Antrieb den Antrag auf Mitgliedschaft gestellt. Also bitte, wir haben damit natürlich nichts zu tun! Seht ihr, genau diese Einstellung ist es, mit der Zeitungen die Fehltritte der Europäischen Kommission oder unserer Politiker vertuschen – indem sie eine Geschichte zwar erzählen, aber eben nur zur Hälfte. "Hey, was sollen wir machen? Ihr, die Ukraine, habt ja schließlich gefragt, ob ihr rein dürft, und wenn ihr so nett fragt..." Aber was ist denn mit Artikel 10? Vielleicht habe ich es verlernt, richtig zu lesen, aber steht da nicht klipp und klar, dass die Ukraine gar nicht fragen kann, ob sie der blau-weißen Flagge beitreten darf? Wer also hat dann die Einladung verschickt? Über diese Frage könnte man doch glatt eine Tarantella tanzen.


Aber Artikel 10 wirft noch ein anderes interessantes Licht auf die Sache. Und jetzt bitte ich um eure volle Aufmerksamkeit: Diese Einladung kann nur an europäische Staaten ergehen, die durch ihren Beitritt die Sicherheit des Nordatlantiks stärken. Aha, da stellt sich mir doch die Frage: Wie genau soll der Beitritt Georgiens – eines Landes, das in Zentralasien liegt – die Sicherheit des Nordatlantiks verbessern? Georgien überblickt – festhalten, das könnte überraschend sein – das Schwarze Meer. Und was führt vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer? Genau, die türkischen Meerengen. Alle Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres sind entweder schon in der NATO oder klopfen – wie die Ukraine – heftig an die Tür. Daher kündigte die NATO 2008 den wahrscheinlichen Beitritt dieser beiden Schwarzmeer-Anrainer an. Es geht also gar nicht mehr um die Verteidigung des Nordatlantiks, sondern um den Übergang der NATO von einem defensiven zu einem offensiven Bündnis, und dieser Wandel ist so klar wie... tja, wie schwarzer Tinte auf weißem Papier.


Und woher wissen wir das? Aus vier historischen Fakten. Ja, nur vier, um euch nicht zu langweilen. Erstens: die Bombardierung Serbiens 1999 – ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Zweitens: die erneute Bombardierung Serbiens 2011 – ihr ahnt es, wieder ein völkerrechtswidriger Krieg. Drittens: Das CIA-Projekt "Timber Sycamore" aus dem Jahr 2013, das 2016 öffentlich wurde. Es heizte den syrischen Bürgerkrieg mit Millionen Dollar und Waffen weiter an, mit dem Ziel, Baschar Al-Assad, einen pro-russischen Präsidenten, zu stürzen und durch jemanden zu ersetzen, der freundlicher zu den USA ist. Und das Ganze – Überraschung – erneut unter Missachtung des Völkerrechts. Habt ihr den roten Faden schon erkannt? Nicht vergessen: Viertens gibt es da noch die Militärbasis in Syrien. Die NATO ist also auf dem Papier vielleicht ein Verteidigungsbündnis, in der Realität jedoch längst nicht mehr.


Was folgt daraus? Die Ausdehnung der NATO auf die Ukraine ist der eigentliche Auslöser des aktuellen Krieges. Was Putin heute mit der Ukraine macht, ist genau das, was Kennedy 1962 mit Castro gemacht hat: Die USA haben Kuba "freundlich" darauf hingewiesen, keine Außenpolitik zu betreiben, die ihre nationale Sicherheit gefährden könnte. Hätte Kuba versucht, sowjetische Raketen zu stationieren, hätten die USA dies mit allen Mitteln verhindert, selbst um den Preis einer militärischen Eskalation. Kurz gesagt: Die Ukraine ist für Russland das, was Mexiko und Kanada für die USA sind. Und wenn Mexiko plötzlich auf die Idee käme, sich mit Putin zu verbünden, wäre das Schicksal Mexikos wohl besiegelt – sei es durch die Ermordung des Präsidenten, die Anzettelung eines Bürgerkriegs oder durch einen direkten militärischen Eingriff. Klingt die letzte Option irgendwie vertraut?


Das Entscheidende, was ich in den Medien vermisse, ist das Verständnis für die Logik der Großmächte. Ihr Verhalten ist in weiten Teilen vorhersehbar, weil sie seit Jahrhunderten dasselbe tun. Wie ein weiser alter Narr einmal sagte: Die Geschichte wiederholt sich.

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